Laudatio Ibrahim Rugova (15.08.1999)
Dr. Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Laudatio anläßlich der Verleihung des
Toleranzpreises der Stadt Münster an
Ibrahim Rugova
Münster, 15. August 1999
Es gilt das gesprochene Wort.
I.
Aktueller kann eine Preisverleihung nicht sein. Wir ehren heute einen
Mann, dessen politische Existenz und dessen Lebenswerk genau mit
dem europäischer Krisenzentren des Balkans verbunden ist, das uns
seit Jahren in Atem hält und an dem es sich entscheiden wird, welch
ein Europa wir im nächsten Jahrhundert bauen werden: ein Europa
der Toleranz, des inneren und äußeren Friedens und der
Menschenrechte - oder ein Europa der Intoleranz, der Kriege und
Bürgerkriege, der religiösen und nationalistischen Ressentiments.
Der Toleranzpreis der Stadt Münster erinnert an den Grundgedanken
des Westfälischen Friedens von Münster und Osnabrück. Und was
braucht Europa z. Zt. mehr als eine neue Einigung auf der Basis dieser
Grundidee? Die Grundidee ist der große historische Kompromiß nach
einem Jahrhundert der Spaltung, der religiösen Dogmatismen, der
Machtkämpfe. Der Kompromiß beruft sich auf das gemeinsame große
europäische Erbe, die Idee des Gleichgewichts, der Machtbalance, der
gegenseitigen Akzeptanz, der Religionsfreiheit und des Respekts vor
anderen Überzeugungen. In diesem Geist versuchten die damaligen
Friedensstifter fair zu regeln, was unter Menschen überhaupt zu
regeln ist. Den Rest, den Kampf um die letzen Wahrheiten, überließ
man einer höheren Instanz.
II.
Zufällig ist es nicht, daß dieser große historische Kompromiß, der
dem europäischen. Kontinent damals überhaupt das weltpolitische
Überleben sicherte, nach 1989 wieder erneut zu einem europäischen
Thema geworden ist. Das Ende des großen Dualismus zwischen Ost
und West, zwischen Sowjetimperium und westlichen
Marktwirtschaften, der Ruin der großen Ideologien hatte ja noch
keineswegs eine neue gemeinsame Grundidee geschaffen, auf die
sich das nunmehr ungeteilte Europa der vielen neuen Staaten hätte
einigen können. Was war wirklich allen Europäern gemeinsam? Was
war der europäische contract sociale? Was war ihr zivilisatorischer
Konsens im Bezug auf den Umgang mit den real existierenden
Unterschieden in Kultur, Religion, nationaler Identität, sozialen
Standards, unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklungen? Keiner
konnte diese Frage beantworten und so agierten auch die führenden
Staatsmänner der Wendezeit als ratlose Artisten unter einer
Zirkuskuppel der gemeinsamen europäischen Arena, ohne den
Bauplan für das neu zu bauende europäische Haus zu kennen. Kein
Wunder, daß in dieser Ratlosigkeit alte Nothelfer als potentielle
Ordnungsfaktoren sich anboten: der Nationalismus z. B., die religiöse
und kulturelle Zugehörigkeit, ethnische Abgrenzungen, Gewalt als
wieder erlaubtes Mittel, sich zum vermeintlichen Recht zu verhelfen,
Grenzverschiebungen.
All dies konzentrierte sich - wie in einem Brennglas - am meisten in
der Region, die immer am deutlichsten den Grad der europäischen
Krankheit und der europäischen Tragödien widergespiegelt hatte: auf
dem Balkan. Und in diesem Spannungsfeld lebte, kämpfte, redete und
handelte Ibrahim Rugova, unser heutiger Preisträger.
III.
Ibrahim Rugova ist ein Mann, an dem sich die Geister scheiden. Das
war schon lange so - nicht erst seit den Tagen von Rambouillet. - Für
die einen war er der Gandhi des Balkans, für die anderen war er ein
politscher Traumtänzer. Und tatsächlich hat es etwas Kühnes,
merkwürdig gegen den Geist der Zeit Gerichtetes, daß Ibrahim Rugova
mitten im Zentrum des jahrtausende alten Konfliktfeldes des Kosovo,
des Amselfeldes, eine gewaltfreie Bewegung aufbaute, die sich den
Ideen Gandhis und Nelson Mandelas und Martin Luther Kings
verpflichtet fühlte.
Er wollte die Jugend des Balkan der Geschichte der Gewalt entziehen.
Er nahm bitter ernst, daß an dieser uralten Bruchstelle zwischen
Ostrom und Westrom, zwischen Islam und Christentum, zwischen
osmanischem Reich und Mitteleuropa immer schon die Gefahr eines
europäischen Steppenrandes gelauert hatte. Es war also ein Stück
europäischer Verantwortung, alles zu versuchen, die Menschen
dieses Raumes dieser Gewalttradition zu entziehen.
Es war auch Teil der Klugheit, zu der gewaltfreie Bewegungen nie eine
Alternative haben. Gewalt kann dumm sein, wenn sie nur genügend
Waffen hat. Gewaltfreiheit muß immer klüger sein als der
gewaltbereite Gegner. Mit der Methode der Gewaltfreiheit wollte
Ibrahim Rugova auch die Gewaltbereitschaft des Milosevic-Regims
unterlaufen, ihm keinen Anlaß zur offenen Eskalation bieten. Das ist
ihm übrigens erstaunlich lange gelungen. Und daß es am Ende
gescheitert ist, hatte die wenigsten Ursachen in der Strategie der
Gewaltfreiheit. Doch dazu später mehr. Nicht zuletzt zielte die
Strategie der Gewaltfreiheit langfristig und weitsichtig auf den frühen
Aufbau einer Zivilgesellschaft in einer posttotalitären Gesellschaft.
Ohne diese Zivilgesellschaft - das spüren wir in der ganzen
Balkanregion - kann keine Demokratie existieren. Hier liegt eines der
größten Verdienste der Bewegung um Rugova. Sie begann mit
Organisationen der Selbstverwaltung und der Selbstorganisation, als
anderenorts überwiegend über Grenzfragen und Nationalitätenfragen
diskutiert wurde. Zehn Jahre lang, seit 1989, hatte die Bewegung um
Ibrahim Rugova erstaunliche Erfolge: Auf die zunehmende Repression
und Entrechtung reagierte sie mit positiven Erfahrungen des Aufbaus
eigener Institutionen und Ordnungen. Eigene Universitäten und
Schulen wurden erhalten, ein System eigener Sozialfürsorge, Parteien
wurden aufgebaut und in einem koordinierenden Rat
zusammengefaßt, Wahlen und Referenden wurden abgehalten. Eine
erstaunliche politische und organisatorische Leistung, die im Westen
kaum zur Kenntnis genommen wurde.
© 2015 Dr. Antje
Vollmer